Behinderung kein Thema: Ehrenamtlerin auf See und Chefin über 21 Mitarbeiter
Source: LN - Lübecker Nachrichten
Author: Heike Hiltrop
Fahrenkrug. Eine Filmkamera ist auf eine junge Frau gerichtet, die mit blauer Strickmütze auf dem Kopf lachend auf einem Poller an der Reling der "Fortuna" sitzt. Das Segelschiff, ein Zweimaster, der Ostseetörns im Rahmen inklusiver und pädagogischer Angebote unternimmt. Der NDR ist zu Gast für einen "DAS"-Fernsehbericht zum Thema Ehrenamt. Die "Matrosin", die Rede und Antwort steht, heißt Astrid, ist 36 Jahre alt und kommt aus Fahrenkrug.
Ihr Job auf dem Traditionssegler und für den Verein "Mignon Segelschifffahrt": Teilnehmer betreuen, Sponsoren finden und anderes mehr. Gerade geht es um die Organisation des Spätsommer-Törns. Die "Fortuna" ist ihr großes Hobby.
Dass sie einmal zur Stammcrew auf einem Schiff gehören würde: einst undenkbar. Astrid Spahr hat vor ihrer Geburt einen Schlaganfall erlitten. Klar war das jedoch erst ein Jahr später. Bis dahin hieß es, bei ihr gebe es Entwicklungsverzögerungen. Man müsse abwarten.
Doch die halbseitige Lähmung besserte sich nicht. Dann die Diagnose. Ihre Mutter Ulrike (68) erinnert sich: "Die Ärzteschaft hat ganz schwarzgesehen." Ihre Tochter werde nie Rad fahren, tanzen oder schwimmen lernen. Der Besuch einer Regelschule werde nicht funktionieren. Ulrike Spahr fasst ihre Reaktion und die ihres Mannes Christian (71) zusammen: "Wir sagten: Gucken wir mal."
Astrid lernt das Laufen und Sprechen viel später als andere Kinder. Doch die Grundschule im Dorf besucht sie schließlich wie alle Jungen und Mädchen in Fahrenkrug. Schwierig sei der Sport gewesen, bei dem sie oft auf der Bank saß. "Da habe ich schon oft geweint", sagt sie. Heute kann sie tanzen, hat Schwimmen gelernt, liebt Fahrradfahren, trainiert physio- und ergotherapeutisch ihre Feinmotorik.
Die 36-Jährige ist überzeugt: "Wenn meine Mutter nicht so hartnäckig gewesen wäre, jedes Therapieangebot genutzt hätte und meine Eltern mich vor Sorge immer über den Hof getragen hätten, wäre ich heute nicht da, wo ich bin." Klar könne sie nicht alles machen, sagt die junge Frau, Inlineskaten zum Beispiel. "Und ich darf keinen Führerschein machen - das ist doof, wenn man auf dem Land wohnt."
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Dass sie jedoch durch ihre körperlichen Einschränkungen Hänseleien oder Mobbing erfahren habe, sei nur ein Mal vorgekommen. Astrid Spahr winkt ab: "Inklusion ist gar kein Thema für mich, ich bin voll inkludiert, schon immer!" Statt Behinderung habe sie zudem die Bezeichnung Beeinträchtigung viel lieber.
Sie hat ihren Realschulabschluss gemacht, ein Freiwilliges Soziales Jahr an der Traveschule absolviert und erfolgreich die Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen. Ursprünglich wollte sie dann Erzieherin werden. "Aber ich habe schnell gemerkt, dass es nicht das Richtige ist." Eine gute Entscheidung, denn die Geschwister, ihr Bruder ist Physiker, ihre Schwester Ärztin, hatten kein Interesse am elterlichen Hühner-Hof mit 60.000 Legehennen sowie, in Kooperation mit Andreas Tolkmitt, Jungsauenaufzucht als zweites Standbein.
Am 1. Juli übernimmt sie den Betrieb mit 21 Mitarbeitern. Andreas Tolkmitt und sie werden ihn gemeinsam managen. "Ein großer Glücksfall", freut sich Christian Spahr. Schon seit 2015 arbeitet seine jüngste Tochter an seiner Seite mit, die Übernahme habe sich schleichend angekündigt: "Wir haben nie daran gezweifelt, dass sie das kann." Die neue Chefin nickt: "Ich bin akzeptiert im Betrieb. Wir haben alle ein tolles Verhältnis zueinander." Astrid Spahr hebt ihre gesunde Hand und winkt zum Scherz: "Ich mach' eben alles mit links."